Jahresbericht Studienjahr 2022/2023 – Ereignissplitter

Das Studienjahr 2022/2023 war reich an Highlights: Antritts- und Abschiedsvorlesungen sind immer besondere Ereignisse im akademischen Alltag. Ein Grossereignis waren die vier Aufführungen des Theaterstücks Enuma Elish. Aus der Sicht vieler Studierender wird die Berlinreise in guter Erinnerung bleiben.

Antrittsvorlesung Prof. Dr. Franziskus Knoll OP

Am 29. September 2023 hielt Prof. Dr. Franziskus Knoll, der zum Herbstsemester 2022 auf den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik berufen worden war, seine Antrittsvorlesung unter dem Titel: «‹Machen, worauf es ankommt!›. Herausforderungen diakonischer Pastoral heute».

Um den neuen Lehrstuhlinhaber vorzustellen, bietet sich ein assoziativer Umweg an. Franziskus Knoll teilt mit einem berühmten Zeitgenossen nicht nur den Namen, sondern auch die Verbindung unterschiedlicher Ordenstraditionen. Er trägt den Namen des Gründers des Franziskanerordens als Mitglied des Dominikanerordens, dem er seit 2001 angehört, so wie Papst Franziskus diesen Namen als Jesuit trägt.

Eine weitere Verbindung der beiden Träger des Namens Franziskus bietet ein vielfach aufgenommenes Bild, das Papst Franziskus kurz nach seinem Amtsantritt in einem Interview verwendete. Er verglich die Kirche mit einem Feldlazarett. «Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht»[1].

Als neuer Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie und Homiletik wird Franziskus Knoll in unterschiedlichen Hinsichten mit der Frage beschäftigt sein, wie die Kirche ein solches Feldlazarett sein kann, und er hat die Aufgabe, Menschen für den seelsorglichen Dienst in diesem Sinne auszubilden. Dafür bringt er hervorragende Voraussetzungen mit.

Der nahe der Schweizer Grenze, in Bad Säckingen, geborene Franziskus Knoll ist von seiner Erstausbildung her Gesundheits- und Krankenpfleger. Um hier schon den Titel seiner Antrittsvorlesung aufzunehmen: Er weiss, worauf es in Lazaretten ankommt, wenn Menschen krank, verwundet, geschwächt sind, und er weiss, dass dann effizient zu handeln ist.

In seiner beruflichen Ausbildung qualifizierte er sich zusätzlich durch ein Studium der Pflegepädagogik in Mainz. So arbeitete er nicht nur als Gesundheits- und Krankenpfleger, sondern wirkte auch bis in die jüngste Zeit als Ausbildner in Krankenpflegeschulen in Trier, Eichstätt, Wien , Bremen und Vallendar.

Hinzu kam 2002 bis 2007 das Studium der Katholischen Theologie (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), 2014 die Promotion zum Dr. theol. im Fach Pastoraltheologie / Diakonische Theologie mit einer Arbeit zur Spiritualität in der Pflege: «Mensch bleiben trotz Krankenhaus!», die von Prof. Dr. Doris Nauer an der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Pallottiner in Vallendar moderiert wurde. 2015 bis 2020 war Franziskus Juniorprofessor für Diakonische Theologie und Spiritualität an der Pallottinerhochschule in Vallendar und wurde nach erfolgreichem Abschluss dieser Juniorprofessur 2020 in Vallendar zum ausserplanmässigen Professor für Diakonische Theologie, Spiritualität und Pflegeethik ernannt. In der Zeit als Juniorprofessor qualifizierte er sich zudem zum Systemischen Berater weiter.

Ein weiteres Doktorat an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten / Herdecke am Lehrstuhl für Lebensqualität, Spiritualität und Coping (Moderation-Prof. Dr. Arndt Büssing) steht kurz vor dem Abschluss.

Franziskus Knoll setzt in der Pastoraltheologie damit einen stark diakonischen Akzent. Mit dem Bild von vorhin formuliert: Die Kirche soll nach den Vorstellungen von Papst Franziskus ein Feldlazarett «mit offenen Türen [sein], um jeden aufzunehmen, der anklopft und um Hilfe und Unterstützung bittet»[2]. Es ist dringlich, binnenkirchliche Strukturen nach dem Kriterium so zu gestalten, dass die Ausrichtung auf solche Offenheit und solchen Dienst gewährleistet ist. Und vor allem – hier hinkt dann das Bild – ist es in ganz verschiedenen Dimensionen angesagt, eine Kirche zu sein, die nach aussen geht, im Sinne einer aufsuchenden Seelsorge.

Mit seiner vielseitigen Qualifikation ist Franziskus Knoll aber auch versiert, um in der Kooperation der TH Chur mit der Universität Bern im Blick auf das Programm Aus- und Weiterbildung in Seelsorge, Spiritual Care und Pastoralpsychologie Schweiz (AWS) kompetent mitzuwirken. In dessen sechs Studiengängen werden Seelsorgende u.a. für die Arbeit in Spitälern, Heimen, Gefängnissen ausgebildet. Auch er selbst wirkte mehrere Jahre als Spitalseelsorger.

Die TH Chur ist sehr erfreut, dass Franziskus Knoll den Ruf der Theologischen Hochschule Chur auf den Lehrstuhl für Pastoraltheologie und Homiletik angenommen hat. Wir freuen uns auf die gemeinsame akademische Arbeit.

[1] Antonio Spadaro; Andreas R. Batlogg (Hrsg.): Das Interview mit Papst Franziskus. Freiburg i.Br.: Herder, 2013, 47.
[2] Papst Franziskus: Predigt bei der Eucharistiefeier zur Eröffnung der Bischofssynode, 4.10.2015: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/homilies/2015/documents/papa-francesco_20151004_omelia-apertura-sinodo-vescovi.html (28.02.2018).

 

Antrittsvorlesung «Machen, worauf es ankommt. Herausforderungen diakonischer Pastoral heute», 29. September 2022

Franziskus Knoll entfaltete in seiner Antrittsvorlesung die Diakonie nicht nur als einen Wesensvollzug von Kirche, sondern machte in seiner Argumentationslinie deutlich, dass eine sich als «diakonisch» verstehende Kirche ein Selbstverständnis atmet, das Antworten auf heutige Herausforderungen bereithält. Eine solche Kirche ist eine schuldsensible Kirche, «zu deren Sendung es gehört, Busse zu tun und umzukehren», so Knoll. «Ein solcher Zugang hat Auswirkungen: Aus Belehrung werden Begegnung und Dialog; aus einem uneingeschränkten Wahrheitsanspruch wird Offenheit; aus einer für abgeschlossenen erklärten Offenbarung wird Sensibilität für das Wirken des Geistes Gottes in der Zeit. – Eine Kirche, die sich selbst nicht absolut setzt, sondern sich ebenfalls abhängig von der Zuwendung Gottes weiss und erlebt, entwickelt ein Mehr an Toleranz und Selbstkritik.» Eine solche Kirche weiss darum, dass sie sich in einer Geschichte bewegt, und in diese Geschichte lässt sie sich ein, indem sie den Menschen dient. Nicht zuletzt findet eine solche diakonische Kirche ihre Referenzpunkte in der Praxis Jesu und in Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils (z.B. Lumen Gentium und Gaudium et Spes).

Dies Academicus 2022

Zahlreiche Gäste aus Kirche, Gesellschaft und Politik kamen am Montag, 24.10.2022, in der Aula der Theologischen Hochschule Chur zum Dies academicus des Studienjahrs 2022/23 zusammen. Die Musikerin Martina Berther aus Chur verzauberte mit ihren E-Bass-Klängen das Publikum und sorgte für eine angesichts des Themas durchaus berechtigte Nachdenklichkeit.

Zu Beginn der akademischen Feier beschrieb die Prorektorin und geschäftsführende Leiterin der Hochschule Prof. Dr. Eva-Maria Faber aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen der TH Chur und berichtete vom laufenden Akkreditierungsverfahren durch die Schweizerische Hochschulkonferenz. Zahlreiche Kräfte seien im Rahmen der Zertifizierung durch die AAQ gebündelt worden, um die Sicherung und Entwicklung der akademischen Qualität zu gewährleisten.

Die Festansprache hielt die Präsidentin des Schweizerischen Roten Kreuzes, Barbara Schmid-Federer. Sie setzte ein bei der Gründungsgeschichte des SRK auf den Schlachtfeldern von Solferino 1859 und zog von dort aus einen symbolischen Bogen zu einem Bild von Papst Franziskus, der die Katholische Kirche mehrfach mit einem «Feldlazarett» verglichen hatte. Einerseits beschäftigten Missbrauchsfälle die Öffentlichkeit und der synodale Prozess wolle Reformen anstossen. Dabei müsse die Kirche andererseits aufpassen, dass sie nicht die existenzielle Not der Menschen und ihre diakonische Existenz aus den Augen verliere, so Schmid-Federer.

In einem kurzen historischen Abriss portraitierte die alt Nationalrätin den Genfer Kaufmann Henri Dunant, dessen Gründungsidee gerade unter dem Eindruck verfeindeter Kriegsparteien immer gewesen sei, dass jeder Mensch ohne Ansehen der Person die Hilfe des Roten Kreuzes verdient habe. «Helfen ohne zu fragen wem» sei seitdem die Devise des Internationalen Roten Kreuzes (IRK), das weltweit 80 Millionen Mitglieder zähle. Das Rote Kreuz sei politisch und religiös neutral: «Nur die Tat der Hilfe ist entscheidend, nicht die Herkunft des Opfers.»

Federer, die an den Universitäten Zürich und Paris Romanistik studierte und von 2007 bis 2018 für die CVP politisierte, stellte das biblische Gleichnis vom Barmherzigen Samariter in die Mitte ihrer Überlegungen. Sie legte es im Sinne des universalen humanitären Hilfsprinzips aus, dem sich das Rote Kreuz verschrieben hat: «Alle haben die gleichen Rechte auf Hilfe.» Egal, ob es sich dabei beispielsweise um Flüchtlinge aus der Ukraine oder aus Afghanistan handelt. Damit versuchte sie auch das Gespenst einer immer wieder heraufbeschworenen «schleichenden Islamisierung» Europas und der Schweiz durch Flüchtlinge zu entkräften. Heute seien die katastrophalen Folgen des Klimawandels die modernen «Schlachtfelder». Federer beendete ihre Rede mit einem eindrücklichen Zitat, das auch etwas von den religiösen Wurzeln des Rotkreuz-Gründers Henri Dunant spüren lässt: «Car nous naissons tous ouvriers de cette grande cité de Dieu qui s’appelle l’humanité: Wir werden alle geboren als Arbeiter in dieser grossen Stadt Gottes, die heisst ‹Menschlichkeit›».

Festvortrag von Barbara Schmid -Federer

Rektor Prof. Dr. Christian Cebulj nahm anschliessend die Prämierung der Preisträgerinnen des Churer Maturapreises für Religion 2022 vor. Dabei wurden vier junge Frauen für ihre Arbeiten prämiert. Yasmina Mark (Literargymnasium Rämibühl ZH) erhielt den ersten Preis für ihre Recherche «Durch Adoption zur Familie», die ethnische Herkunft, Religion und Geschlecht als Ursachen von Rassismus benennt, mit denen Adoptivkinder konfrontiert werden. Lena Köhre (Bündner Kantonsschule) kam mit ihrem Beitrag zu den Positionen verschiedener Religionen zur Organspende auf den zweiten Platz. Den dritten Preis erhielten Alessia Alig und Fiona Bugmann (ebenfalls Bündner Kantonsschule) für ihre Arbeit über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Jugendliche.

Am Ende der Feier stand das Grusswort von Bischof Dr. Joseph Maria Bonnemain, der auch Grosskanzler der Theologischen Hochschule ist. Darin strich er die Bedeutung der Apostolischen Konstitution «Veritatis Gaudium» für eine integrale Entwicklung der Theologischen Fakultäten heraus. Papst Franziskus gehe es um den interdisziplinären Dialog der Theologie mit allen Wissenschaften, die zum Aufbau einer Kultur der Humanität und Geschwisterlichkeit beitragen. Diesen Anspruch möge sich die Theologische Hochschule Chur auch in Zukunft immer wieder stellen. Im Anschluss an die akademische Feier wurden die Themen des Abends in geselliger Runde beim Apéro riche weiter diskutiert.

 

Theater Enūma eliš - eine Entstehungsgeschichte

Von der Vorlesung zum Theaterstück

Kaum eine Frage fasziniert den Menschen seit Urzeiten mehr als die Frage nach aller Anfang. Teleskope wie Hubble und das James-Webb-Teleskop lassen uns heute bis an den Abgrund, bis an den Rand des sichtbaren Universums blicken. Doch was verbirgt sich dahinter? Hinter der Hintergrundstrahlung und vor dem Urknall? Woraus er-schöpft sich alles, was ist, alles was wir sehen und sind? Was liegt am Grund des Abgrundes? Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts? Je tiefer unsere Einblicke in das ganz Grosse des Universums und in das ganz Kleine der Quanten werden, umso mehr verschmelzen Naturwissenschaft und Metaphysik wieder miteinander.

Es war diese Faszination, die eine Gruppe von Studierenden der Theologischen Hochschule Chur veranlasste, ausgehend von der Auseinandersetzungen in den Vorlesungen mit biblischen Schöpfungstexten und antiken Schöpfungsmythen zwischen Ägypten und Mesopotamien selbst poetisch aktiv zu werden und aus den alten Geschichten und Mythen, Gedanken aus anderen Zeiten, etwas Neues zu schaffen, ein Theaterstück, das auch die grossen Fragen unserer Gegenwart aufgreift.

Die Idee zu diesem Theaterstück kam uns (Claude Bachmann und mir, René Schaberger) schon 2017, als an der Theologischen Hochschule Chur in der besagten Vorlesung alttestamentlicher Exegese die Entstehung von Schöpfungsmythen in der alttestamentlichen Lebenswelt auf dem Vorlesungsplan stand. Wir befassten uns in der Vorlesung mit den Schöpfungstexten der Tora und mit dem altbabylonischen Weltschöpfungsmythos Enūma eliš.

Während in Genesis Gott-Elohim die Welt als grosser Erschaffer in einem sieben Tagewerk wohl bedacht ordnet und alles als etwas Gutes hervorbringt, beginnt die Welt gemäss dem Kriegsepos Enūma eliš mit einer gewaltvollen Ouvertüre. Der erste Schöpfungsbericht in Genesis intendiert den einen Gott als Schöpfer einer guten Ordnung, der Weltschöpfungsmythos Enūma eliš hingegen beschreibt die Schöpfung als Werk der Götter aus Chaos und Unruhe.

Prof. Dr. Michael Fieger, Professor für alttestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur, pflegte in seiner lebendigen Art während seinen Vorlesungen über die folgende Frage zu dozieren: «Altorientalische Mythen: wie wurden die tradiert? Indem man sich die Texte über Generationen immer weiter erzählt hat. Jedoch nicht nur! Die Texte wurden aufgeführt – wie Theaterstücke! Die Texte haben einen Rhythmus, die haben eine Dramaturgie, die haben Humor… Wir sollten diese Texte in der Kirche nicht einfach nur lesen, wir sollten sie aufführen, inszenieren!»

Diese Idee des Theaterstücks hat vor allem Claude Bachmann, damals Bachelorstudent an der Theologischen Hochschule Chur, beeindruckt. Claude suchte daraufhin einen Verbündeten für dieses Projekt, und er schaffte es, mich für die Idee zu begeistern. Ich war damals Masterstudent und kannte längst Prof. Fiegers Hang zur Dramatik in seinen Exegesevorlesungen. Mit den beiden Texten Genesis 1,1-2,4a und Enūma eliš im Gepäck reisten wir im Winter 2018 für ein Wochenende nach Ponte Tresa. Mit Blick auf den Luganersee entschieden wir einerseits, welche Grundidee uns leiten soll, und wir entwickelten anderseits den Plot des Stücks.

In den darauf folgenden Wochen und Monaten wurden Szene für Szene geschrieben. Der Schreibprozess gab der Geschichte ungeplante Wendungen, den Figuren unerwartete Wandlungen, den Texten Genesis und Enūma eliš neue Bedeutungen. Die Figuren, die wir uns überlegten, begannen in unseren Köpfen zu sprechen, sie stellten Fragen, die wir uns so noch nicht gestellt hatten. Die Schöpfungsmythen offenbarten Inhalte, die wir so noch nicht entdeckt hatten. Wir mussten während des Schreibens den Mut entwickeln, uns von den textlichen Grundlagen der Genesis und von Enūma eliš ein Stück weit zu lösen, und uns damit eingestehen, dass wir eine eigene, neue Interpretation der Mythen schufen. Indem wir Textteile herausstrichen, wurde anderes innerhalb des Textes unterstrichen. Wir hoben Inhalte hervor, von denen wir glaubten, dass sie in unsere Zeit hinein sprechen, und liessen manches weg, das uns fremd und unzugänglich schien.

Der Plot des Stücks

Die Schriftstellerin S hat eine Aufgabe: Sie soll ein Theaterstück schreiben über die Erschaffung der Welt. Doch schon lange verliert sie sich bei ihrer Recherche in den dicken Büchern, die sie zur Vorbereitung lesen müsste. Sie verliert sich und ihre Motivation zwischen den vergilbten Seiten, die doch auch keine Antwort auf die rätselhaften Fragen rund um das Dasein verbergen. So vermehren sich nicht etwa die Worte in ihrem Laptop, sondern nur die Fragen in ihrem Kopf.

Um sich von ihrer Fragerei abzulenken und etwas Ruhe in ihren Kopf zu bekommen, beginnt sie, Katzenvideos anzuschauen. Doch da meldet sich der Flüsterer F – ihr schlechtes Gewissen. Ein kräftiger Schlag mit einem Buch auf den Hinterkopf von S schickt sie auf eine Reise durch Raum und Zeit.

Als sie die Augen wieder öffnet, sieht sich S von den hängenden Gärten Babylons umgeben und im Zentrum eines Schauspiels: Sie ist inmitten der Aufführung von Enūma eliš im Jahr 535 v. Chr. wieder erwacht. Am Ende dieser verstörenden Aufführung trifft S auf den Juden J – eine verwahrloste, zerlumpte, blinde Gestalt, die sich das Schauspiel ebenfalls angeschaut hat. Als J erfährt, dass S Schriftstellerin ist und schreiben kann, verdonnert er sie dazu, einen flehentlichen Brief nach Jerusalem zu schreiben. Während J ihr den Brief diktiert, offenbaren sich die Abgründe der Lebensgeschichte von J, der, wie es scheint, von seinem Volk in Babylon zurückgelassen wurde. J bricht den Brief ab und beginnt seinen Kummer in Alkohol zu ertränken. Zwischen J und S bildet sich eine Schicksalsgemeinschaft: Sie, die in keine Geschichte hinein findet, und er, der in seiner Geschichte gefangen ist.

Unter der unfreundlichen (und ungebetenen) Mithilfe von F und zwei Katzenwesen machen sich S und J daran, den Sinn des Daseins zu ergründen und ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Der lange Weg auf die Bühne

Neben Bachelor- und Masterarbeit schrieben Claude und ich über ein Jahr an dem Stück. Der Schreibprozess fand im Sommer 2019 einen Abschluss. Wir hatten das Theaterstück mit dem Titel «Enūma eliš – Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?» geschrieben, doch dieses landete dann für einige Zeit in der berühmten Schublade unvollendeter Ideen. Während Claude noch seinen Masterabschluss anstrebte, machte ich mich nach Abschluss meines Theologiestudiums auf Pilgerreise.

Ich kehrte im April 2020 für eine Assistenzstelle und ein Doktorat an die Theologische Hochschule Chur zurück. In dieser Zeit dachten wir aufgrund des Ausbruchs der Coronapandemie nicht im entferntesten an die Aufführung des Theaterstücks. Als sich nach rund einem Jahre die pandemische Lage etwas zu normalisieren schien, standen wir an der Hochschule vor dem Problem, dass sich die Studierenden Zuhause in ihren Büros, Besenkammern, Wohnzimmern eingerichtet hatten. Vorlesungen wurden auch nach der Öffnung der Universitäten und der Zulassung von Präsenzmodus hybrid angeboten. Es brauchte Projekte und Ideen, die die Studierenden wieder dazu motivierten, den Weg an die Hochschule auf sich zu nehmen. Da holten Claude (unterdessen auch Assistent an der Hochschule) und ich das Theaterstück wieder aus der Schublade.

Wir gründeten den Verein Theatergruppe TH Chur, wir gaben uns Statuten und eröffneten ein Bankkonto, wir zauberten einen Projektbeschrieb aus den Fingern und begaben uns damit auf Sponsorensuche. So ist das ganze Projekt auch nur möglich geworden dank der grosszügigen Unterstützung der Stiftung Freunde der TH Chur, SWISSLOS (Kulturförderung Kanton Graubünden) und der Boner Stiftung für Kunst und Kultur.

Wir hatten fünf Rollen zu vergeben. Zu Beginn des Herbstsemesters 2021 stellten wir das Theaterprojekt den Studierenden vor – schnell fanden sich genügend Theaterverrückte. Wir führten erste Leserunden mit verteilten Rollen durch und stellten fest: Das Stück begeistert – doch es stellte sich auch heraus, dass es noch viel zu lang war, die Sprache viel zu blumig und umständlich für ein Theaterstück. Also entschieden wir uns, das Stück zusammen mit den Schauspieler:innen zu überarbeiten. Es begann ein äusserst gewinnbringender Überschreibungsprozess. Die Texte wurden gekürzt und vereinfacht und die Schauspieler:innen hatten die Gelegenheit, ihre Sprache, ihre Fragen in das Stück einzubringen, was die Identifikation der Schausspieler:innen mit ihren Rollen stark förderte.

Rund ein halbes Jahr dauerte die Überarbeitung. Über diesen Zeitraum beeinflussten persönliche und weltpolitische Ereignisse den Prozess. Aufgrund von Long-Covid-Schicksalen musste für manche Rollen ein Ersatz gesucht werden. Zu Beginn des Jahres 2022 überfiel Russland die Ukraine. Unter dem Schock des Angriffskrieges und der Bilder, die uns beinahe live über die Medien erreichten, blieben uns bei einer der ersten Proben manche Texte im Hals stecken. Die Macht- und Gewaltideologie, die dem Mythos Enūma eliš innewohnt, war uns bis zu diesem Punkt nur eine Abstraktion aus einer anderen Zeit. Der Krieg in der Ukraine machte uns schlagartig bewusst, dass Enūma eliš nicht bloss eine antike Geschichte aus dem fernen Mesopotamien ist, sondern dass wir Menschen noch heute unter dieser Logik funktionieren: Fiktion und Realität vermischten sich auf bittere Art und Weise.

Mit dem Beginn des Herbstsemesters 2022 begannen die intensiven Proben in der Seminarkirche St. Luzi an der Theologischen Hochschule Chur. Damit begannen auch die Planungen und Vorbereitungen all der Dinge, die dem nackten Text Farbe, Klang und Dramatik verleihen sollten. Für die Kostüme waren die Schauspieler:innen zu weiten Teilen selbst verantwortlich. Bei der Musik entschieden wir uns, einen begabten Musiker aus Chur zu engagieren: Marcus Petendi. Für Technik und Licht konnten wir einen professionellen Lichtkünstler gewinnen: Dario Neuhausler. Beide standen vor der Herausforderung, sich innert kurzer Zeit auf die Akustik und die Architektur des Kirchenraums einstellen zu müssen. Gemeinsam gelang es ihnen, eine dichte Atmosphäre zu schaffen, die das Publikum in Bann zog. Das Bühnenbild wurde schlicht gehalten, da bereits der romanische Kirchenraum mit seiner Architektur unter Einfluss des Lichts eine immense Wirkung hatte.

Zwischen dem 3. und 6. November 2022 gingen schliesslich die Aufführungen über die Bühne. In dieser Zeit flogen Wollknäuel durch die Kirche, es wurde ein neuer Himmel aufgezogen, Katzen tollten über die Bühne und entlang der Kirchenwände, grosse Fragen wurden gestellt und tiefe Abgründe taten sich auf, und ein Teppich aus Klang, Licht und Nebel füllten den 1400 Jahre alten Kirchenraum St. Luzi aus.

Sexual Harassment Awareness Day 2023

Am 23. März 2023 fand an den Schweizer Hochschulen der Sexual Harassment Awareness Day statt. Die Theologische Hochschule Chur beteiligte sich mit drei Anlässen an dieser Präventions- und Sensibilisierungskampagne.

Am Vorabend des Aktionstags wurden unter der Moderation von Ines Schaberger (Sprecherin des Wort zum Sonntag auf SRF) Ausschnitte aus dem Film #FEMALE PLEASURE gezeigt. Der Film dokumentiert das Leben von fünf Frauen aus verschiedenen Teilen der Welt, die für das Recht auf Selbstbestimmung kämpfen und dafür öffentlich diffamiert, verfolgt, bedroht oder aus ihrem Umfeld verstossen wurden. Im Anschluss an den Film gab es Gelegenheit zu einem regen Austausch.

Am Aktionstag selbst wurde in der Seminarkirche St. Luzi ein Klagegottesdienst zelebriert. Am Abend fand in der Regulakirche in Chur die Hauptveranstaltung statt: ein Ökumenisches Podiumsgespräch mit Karin Iten unter dem Titel Blinde Flecken, graue Zonen, rote Linien – Missbrauch und Prävention in kirchlichen Institutionen.

Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur, hielt in diesem Rahmen ein Impulsreferat, das an dieser Stelle nachgelesen werden kann:

Referat Karin Iten: Sich ehrlich machen

Abschiedsvorlesung Prof. Dr. Michael Durst

Am 01. Juni 2023 hielt Prof. Dr. Michael Durst an der TH Chur sein Abschiedsvorlesung. Der Titel seiner ultima lectio lautete: Zur Bedeutung archäologischer Funde und Befunde für die frühe Geschichte des Bistums Chur.

Die Abschiedsvorlesung kann hier nachgelesen werden: Prof. Dr. Michael Durst ultima lectio.

Die Laudatio der Rektorin Eva-Maria Faber finden Sie hier: Laudatio [Link zu Entwicklungen]

Bierbrauexerzitien

Gott suchen und finden in allen Dingen – ist grundsätzlich ein guter Vorsatz für ein Theologiestudium. Der gewöhnliche, akademische Studienalltag ist jedoch mehrheitlich durch auditive (also das Hören von Vorlesungen) und durch visuelle Vorgänge (im Sinne des unermüdlichen Lesens) geprägt. Das Suchen könnte noch einiges vielfältiger sein. Studierende der TH Chur haben sich im FS 2023 auf ein besonderes Experiment eingelassen, wo die Suche um einige Sinne erweitert wurde. Der Religionspädagoge, Leiter der Fachstelle für offene kirchliche Kinder- und Jugendarbeit und Hobbybierbrauer Viktor Diethelm bot an der TH Chur für Studierende Bierbrauexerzitien an. Ähnlich wie bei der Weinherstellung ist das Bierbrauen ein Unterfangen, das viel Geduld braucht, es bedarf Fachwissen, Erfahrung, aber es liegt auch nicht alles in den Händen des Brauers oder der Bräuerin. Die Wasserqualität, die Temperatur, die Qualität des Korns, die Zeit, die Nüchternheit des Brauers und der Bräuerin (Viktor warnte die Studierenden von Anfang an: betrunken braut man kein gutes Bier): es hängt alles mit allem zusammen. Neben den auditiven und visuellen Fähigkeiten sind beim Bierbrauen auch die olfaktorischen (das Riechen – brennt das Korn beim Einmaischen etwa an?) oder die taktilen (das Spüren und Fühlen) und die gustatorischen (das Schmecken – haben sich die Bitterstoffe schon gelöst?) Fähigkeiten gefragt. Das Bierbrauen braucht Vertrauen, denn man kann nicht alles sehen und beherrschen und dennoch entsteht etwas im Topf: Es bricht etwas auf, es gärt, es entsteht eine Farbe, es blubbert… und vor allem konnte man es riechen, vom Kellergewölbe der TH Chur (wo noch immer die alten Weinpressen stehen) bis hoch in den 7. Stock: hier wird Bier gebraut. Der Bierbrauprozess hat etwas sehr Meditatives: Stundenlanges Rühren, die Kontrolle der Temperatur, weiterrühren, Kontrolle des PH-Werts, weiterrühren … unterstützt durch die gute Akustik im Kellergewölbe begannen die Studierenden beim sogenannten Einmaischen Taizélieder zu singen.

Nach einem anstrengenden Brautag – manche hatten dann einige Tage Muskelkater – begann die Hauptgärzeit. Bei einem zweiten Treffen wurde das Bier in Fässer abgefüllt, begleitet vom Staunen, wie jedes Bier eine andere Farbe und eine ganz eigene Geschmacksnote erhalten hatte. Der Degustationsabend rund drei Monate nach dem Brautag begann mit einer Andacht, in der Impulse aufgenommen wurden, die die Studierenden mit Blick auf die Frage, welche spirituelle Dimensionen der Brauprozess für sie hatte, entwickelt hatten.

Dank der Unterstützung der Stiftung Freunde der TH Chur war die Teilnahme an den Bierbrauexerzitien für die Studierenden mit einem geringen Teilnahmebeitrag möglich.

Reisebericht Exkursion nach Berlin

Am Wochenende vom 21.04. bis zum 23.04.2023 fand unter der Leitung von Prof. Michael Fieger und Martin Schulze die Exkursion der Theologischen Hochschule Chur nach Berlin statt. Angesichts des Streiks der Deutschen Bahn war die Hinfahrt etwas abenteuerreicher und umfänglicher als ursprünglich geplant, sodass mehrere Zwischenstopps, Umwege und plötzliche Zeitverschiebungen notwendig waren. Somit konnte die Anreise jedoch auch philosophiegeschichtlich genutzt werden, denn Frau Prof. Roesner ermöglichte uns in Erfurt einen kurzen Abstecher zur Predigerkirche Meister Eckharts und gab uns dort eine Einführung zu seiner Person und seinem theologischen Wirken in der Stadt. Trotz allem kam die Gruppe am Abend gut, wenn auch müde und verspätet, im Amber-Hotel Berlin Charlottenburg an.

Am Samstag fand der Hauptteil unserer Exkursion statt. Der Morgen begann mit der Führung durch das Pergamon-Museum sowie das Ägyptische Museum. Durch Prof. Fiegers heitere und schwungvolle Art waren die von ihm gehaltenen Führungen und Erläuterungen der Exponate sehr angenehm, wobei das Ishtar-Tor sowie die Büste der Nofretete wohl zu den kunsthistorischen Sahnehäubchen gehörten. Durch die historische Schwerpunktsetzung der Zeit Babylons und Ägyptens konnten gleichzeitig inhaltliche Brücken zu Prof. Fiegers Vorlesung der AT-Umwelt geschlagen werden. Zusätzlich gab es stets noch eine philosophische Expertise seitens von Prof. Roesner, sodass die Museumstour thematisch abgerundet war.

Nach einer kulinarischen Stärkung und bei herrlichem Sonnenschein an der Berliner Spreepromenade erwartete uns am Nachmittag eine Besichtigung des Pergamon-Panoramas von Yadegar Asisi, welches in einer 360°-Optik einen künstlerischen Ausschnitt des antiken Pergamon-Altares aus dem Jahre 129 n. Chr. bietet. Nach dieser Tour traf sich die Gruppe noch zu einem gemütlichen Ausklang am Berliner Stadtschloss inklusive eines frühsommerlichen Sonnenuntergangs.

Wie es sich für eine Exkursion mit alttestamentlichem Schwerpunkt gehört, gab es am Abend noch ein persisches Essen, wodurch wir nicht nur eine historische, sondern auch eine kulinarische Zeitreise in den Alten Orient geniessen konnten.

Die Rückreise am Sonntag nach Chur gestaltete sich diesmal ohne Änderungen, Verspätungen und Ausfälle, sodass wir in guter Manier zurück in die Schweiz reisen konnten. Auch lange Fahrten sind in angenehmer Begleitung stets mehr als aushaltbar.

Wir bedanken uns im Namen aller Exkursionsteilnehmer für Prof. Fiegers inhaltliche Begleitung und Referate sowie die logistische Durchführung von Martin Schulze, der uns trotz Streiks gut nach Berlin und zurück gebracht hat.

Mit einer theologischen Brille: Glaube und Religion in Filmen

Zwischen Montag und Mittwoch übernachten neben den sonstigen Bewohnern des Hauses einige Studierende zusätzlich im Seminar St. Luzi. Dies bietet Gelegenheit, hin und wieder auch Abendaktivitäten anzubieten. Im Studienjahr 2022/2023 kam es zu vier Filmanlässen: Religion und Theologie in Filmen war der Titel des Formats. An vier Abenden wurde gemeinsam mit wechselnden Dozenten und Dozentinnen ein Film mit theologischem Potential geschaut. Im Anschluss an den Film kam es unter der Moderation der Fachperson zu einer Austauschrunde. Mit dem Pastoraltheologen Franziskus Knoll wurde das polnische Drama Corpus Christi geschaut, mit der Dogmatikerin Eva-Maria Faber der DOK-Spielfilm Das neue Evangelium von Milo Rau, mit dem Neutestamentler Markus Lau der Jesusfilm Maria Magdalena. Ein Highlight war der Filmabend mit dem Kirchenhistoriker David Neuhold, an dem er den Dokumentationsfilm Der letzte Ketzer, an dem er selbst mitgearbeitet hat, an der TH Chur zeigte. Im anschliessenden Gespräch gab David Neuhold nicht nur spannende Hintergrundinformationen zur historischen Person Jakob Schmidlins, sondern konnte auch Auskünfte über die Produktion des aufwändigen Films geben.