Offene Pfarrhaus-Türen:
Christian Cebulj zu den Anfängen des Alpinismus in Zermatt
Die Kirche unterschätze ihre Möglichkeiten, im Tourismus präsent zu sein, sagt der Rektor der Theologischen Hoschule Chur, Christian Cebulj. Er ist einer der Herausgeber des Buchs «Zwischen Kreuzfahrt und Klosterküche».
Ein Interview von Vera Rüttimann
Wie ist die Idee zu diesem Buch entstanden?
Christian Cebulj: Am Anfang stand eine sehr interessante Tagung an der Theologischen Hochschule Chur im Jahr 2016 mit dem Titel «Gelebte Gastfreundschaft – Kirche im Tourismus». Eingeladen hatten in gut ökumenischer Manier das Pastoralinstitut der TH Chur zusammen mit dem Zentrum für Kirchenentwicklung an der Universität Zürich, der Fachstelle Kirche im Tourismus der Evangelisch-Reformierten Landeskirche Graubünden und der Tourismuskommission des Kantonalen Seelsorgerats Graubünden. Bereits 2011 hatte im Hotel Fravi in Andeer (GR) unter dem Titel «Kirche, Käse und Kultur» eine Netzwerktagung zum natur- und kulturnahen Tourismus stattgefunden, an welche die Churer Tagung anzuschliessen versuchte. In unserem neuen Buch sind Beiträge der damaligen Churer Tagung sowie thematisch weiterführende Texte zum Thema enthalten.
An welche Leserschaft richtet sich dieses Buch?
Cebulj: Wir wollen Tourismus-Verantwortliche in den Kirchen, aber auch in der Wirtschaft und in der Politik, dafür sensibilisieren, dass die christlichen Kirchen wichtige Kulturträger sind. Die europäische Kultur wurde ja in den Bereichen Kunst, Architektur, Malerei und Musik wesentlich durch die Kirchen geprägt, was bis in die Gegenwart sichtbar ist.
Werden die Kirchen auch von Touristen regelmässig besucht?
Cebulj: Ja. Wenn heute Feriengäste aus aller Welt in die Schweiz kommen, treiben sie zwar vor allem Sport und gehen wandern oder Ski fahren. Aber sie wollen auch die heimische Kultur kennenlernen, an der die Kirchen einen wesentlichen Anteil haben. Eigentlich ist das alles nicht neu, denn viele Pfarreien und Kirchgemeinden in den Feriendestinationen machen schon seit Jahrzehnten spezielle Angebote für die Gäste. Es gab aber viele Jahre lang auch eine ‹Raumvergessenheit› in Theologie und Kirche, die unterschätzt hat, welche kulturellen Schätze wir zu zeigen haben. Dieser Tendenz möchten die Projekte an der Schnittstelle zwischen Kirchen und Tourismus entgegenwirken.
Sowohl die Katholische wie die Reformierte Kirche haben ihre Tourismus-Kommissionen 2018 aufgelöst. War das Thema nicht wichtig genug?
Cebulj: Angesichts der hohen Austrittszahlen und des nicht zu unterschätzenden Personalmangels hatten sowohl die Kirchenleitungen wie die Seelsorgenden vor Ort in den letzten Jahren so viel mit der Errichtung neuer Pastoralräume und der Reform von Seelsorgestrukturen zu tun, dass das Thema Kirche im Tourismus aus verständlichen Gründen nicht zu den Prioritäten zählte. 2020 wurde deshalb im Alpinen Museum Bern der ökumenisch getragene Verein ‹Kirchen und Tourismus Schweiz› gegründet (www.ktch.ch), der sich wieder stärker um die Vernetzung der Verantwortlichen in Kirchen und Tourismus kümmert. Seitdem gibt es wieder eine Lobby für das Thema, das ist sehr wichtig.
Von welchen aktuellen Megatrends im Tourismus, auch hervorgerufen durch die Corona-Pandemie, können die Kirchen profitieren?
Cebulj: Die Touristikerin Barbara Haller Rupf, Geschäftsführerin der Academia Raetica, zeigt in unserem Buch Trends auf, in denen die Angebote der Kirchen eine wichtige Rolle spielen können. Darin stellt sie den Gesundheits- und Well-Being-Tourismus heraus, aber auch Familien- und Mehrgenerationenangebote sowie nachhaltiges Reisen. Bergregionen wie Graubünden können dabei in besonderer Weise dem Bedürfnis der Gäste nach Entschleunigung und Erholung in der Natur als Gegenwelt zum stressgeprägten Leben in der Stadt entsprechen. Hier können kirchliche Angebote im Bereich von Spiritualität, Meditation und Gottesdiensten in der Natur wichtige Akzente setzen.
Welche Erfolgsgeschichten an der Schnittstelle Kirche und Touristik berühren Sie besonders in Ihrem Buch?
Cebulj: Es gibt viele schöne Geschichten. Aus historischer Sicht beeindruckt mich immer wieder, dass es die Kirche war, welche die Anfänge des Alpinismus in Zermatt ermöglicht hat. So erzählt Stephan Roth, der heutige katholische Pfarrer von Zermatt, dass sich das Basislager der englischen Alpinisten für die Erstbesteigung der Dufourspitze 1855 und des Matterhorns zehn Jahre später im Pfarrhaus von Zermatt befand. Der damalige Pfarrer Josef Ruden beherbergte Edward Whymper und seine drei englischen Bergsteiger-Kollegen bei sich im Pfarrhaus, das immer Zimmer für Gäste hatte, bevor sie am 14. Juli 1865 als erste über den Hörnligrat den Gipfel des Matterhorns erreichten. Von da an kamen britische Reisende und Alpinisten in Scharen nach Zermatt, um ebenfalls das Matterhorn zu sehen und zu besteigen. Die touristische Entwicklung von Zermatt nahm damit ihren Anfang. Die britischen Gäste sind Zermatt seit Generationen treu und die Adresse des Pfarramts St. Mauritius lautet nicht zufällig: Englischer Viertel 8.
Das Pilgern boomt und ist zu einem Massenphänomen avanciert. Sehen Sie das auch kritisch?
Cebulj: Manche Pilger, die schon öfter bis Santiago gepilgert sind, sagen mir, dass der Zenit überschritten sei. Letztes Jahr sind 350’000 Menschen auf dem Jakobsweg nach Spanien unterwegs, das hält inzwischen viele davon ab oder lässt sie nach alternativen Wegen suchen, die es überall in Europa gibt. In unserem Buch interviewt der Wiener ZEIT-Journalist Benjamin Breitegger die beiden Pilger-Pioniere Anton Wintersteller und Hermann Signitzer aus Salzburg. Der eine war, der andere ist heute Tourismus-Seelsorger. Die beiden nennen als zentrale Motive von Pilgerinnen und Pilgern, dass diese im Gegensatz zum reinen Wandern beim Pilgern etwas klären wollen.
Was ist das genau?
Cebulj: Je nach Grundhaltung ist bei den Pilgernden ein Zwiegespräch mit Gott im Spiel oder sie klären wichtige Fragen beim Laufen mit sich selbst. Hermann Signitzer betont etwa, dass das Pilgern nicht als Erlebnis missverstanden werden darf, das Menschen wieder zur Kirche führen soll. Vielmehr ist es eine niederschwellige Form heutiger Spiritualität, die sich leicht realisieren lässt. Für stärker religiös orientierte Menschen sind Pilgerreisen wie Exerzitien, die sie selbst gestalten. Das Pilgern ermöglicht dann in bestimmten Abschnitten des Lebens ein Stück Veränderung in der Zukunft. Viele erzählen auch, wie sehr das Pilgern ein Lernfeld für Soziales ist: Ich muss Rücksicht nehmen auf andere und mich mit der Natur arrangieren. Dass ich mich abplage und den inneren Schweinehund überwinde, gehört dazu. Es ist eben so, dass Pilgern gleichzeitig erdet und himmelt.
Sie sprechen in Ihrem Beitrag für das Buch von einer neuen Theologie der Gastlichkeit. Was ist darunter konkret zu verstehen?
Cebulj: Früher waren – und sind oft noch bis heute – die Kirche und das gegenüberliegende Gasthaus die zentralen Treffpunkte im Ort. Diese Tradition sollten wir wieder viel stärker pflegen, denn Kirche und Gasthaus bieten sich bis heute an als Räume für die besonderen Momente. Für die kleinen und grossen Übergänge im Leben. Ich verstehe Kirchen und Gasthöfe als Häuser, in die Menschen «einkehren». Einkehr als Synonym für Atemholen, Unterbrechung und Erholung.
So ähnlich denkt auch der Zürcher Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist
Cebulj: Ja. Christoph Sigrist hat im Rahmen der Citykirchenseelsorge immer wieder darauf hingewiesen, dass sich die Kirchen stärker als Gasträume begreifen sollten. Denn Raum entsteht nicht nur dadurch, dass man ihn baut, sondern auch dass man ihn gibt. Welch schönes Bild für eine gastfreundliche Kirche, in die Feriengäste gerne kommen werden, wenn sie sich einladend zeigt und offene Türen hat.
* Christian Cebulj (57) ist seit 2015 Rektor der Theologischen Hochschule Chur. Zusammen mit Thomas Schlag hat er das Buch herausgegeben: Zwischen Kreuzfahrt und Klosterküche. Formen kirchlicher Präsenz im Tourismus, Theologischer Verlag Zürich 2021, 238 Seiten, CHF 32.80.
Vgl. auch: https://www.kath.ch/newsd/christian-cebulj-die-kirche-hat-die-anfaenge-des-alpinismus-ermoeglicht/